Marie-Anne Raue
Marie-Anne Raue © Nils Hasenau Fotografie

Marie-Anne Raue: Unser größtes Problem ist, dass wir keine Tradition in Sachen Essen entwickelt haben.

von Laura Bähr

Marie, Sie sind mit 18 Jahren durch eine Diskobekanntschaft auf die Gastronomie aufmerksam geworden. Was würden Sie heute sagen – Zufall oder Schicksal?
Marie-Anne Raue: Das war in einer Zeit, wo ich mir tatsächlich immer mehr Gedanken darüber gemacht habe, wie ich meine Zukunft gestalten möchte. Ich war damals fasziniert von dem Bereich, weil man durch persönlichen Einsatz viel erreichen kann.

Die Energie, die man reinsteckt, wird sofort spürbar. Wenn man wollte konnte man sehr schnell mitarbeiten und auch mitentscheiden, was ich sehr liebe. Ich bin kein Mensch, der viel über Dinge nachdenken muss, ich handle lieber intuitiv. Wenn man seinen Job in dem Bereich gut macht, bekommt man auf kurzem Weg Bestätigung von den Menschen, das schätze ich sehr. 

Welche Rolle spielt Essen in Ihrem Leben? 
Marie-Anne Raue: Essen, Wein und die Gastronomie bestimmen meinen Leben, privat wie beruflich. Alle Menschen um mich herum, sind dadurch auch viel fixierter auf Essen (lacht). Privat liebe ich es mit Lebensmitteln zu arbeiten und da müssen auch meine Freunde öfters herhalten. Außerdem habe ich eine große Leidenschaft gut essen zu gehen und neue Restaurants auszuprobieren…

“Wenn man seinen Job in dem Bereich gut macht, bekommt man auf kurzem Weg Bestätigung von den Menschen, das schätze ich sehr.” 

Kann das auch manchmal schwierig werden, wenn das Hobby zum Beruf wird? 
Marie-Anne Raue: Ja, auf jeden Fall. Gerade wenn man sehr früh anfängt, sich eben ganz auf dieses Hobby einzulassen. Man verbringt gefühlt nur noch Zeit mit Menschen, die eben auch in dieser Branche leben. Da muss man aufpassen, dass man noch andere Dinge sieht und sich auch mal aus seiner Blase herausbegibt. 

Heutzutage scheint Essen entweder eine ganz untergeordnete oder eine besonders wichtige Rolle im Leben der Menschen zu spielen. Wie kann man sich diesen Spagat erklären?
Marie-Anne Raue: Unser größtes Problem ist, dass wir keine Tradition in Sachen Essen entwickelt haben. Es gibt aktuell eine Generation von jungen Menschen, die sehr viel Wert auf Qualität legt, nicht nur bei der Nahrung, sondern auch bei der Kleidung oder ihrem allgemeinen Umfeld. Das ist auf jeden Fall eine gute und wichtige Bewegung.

Leider ist es uns in Deutschland aber nie gelungen, das Essen wirklich zu etablieren, wie beispielsweise in Italien. Da gehört ein gutes Essen zur Lebensqualität dazu, es geht gar nicht ohne. So ist es bei uns leider nicht. Ich habe die Hoffnung aber noch nicht aufgeben, dass wir da irgendwann auch hinkommen. Eine Entwicklung, die auch in diese Richtung spielt, ist das Aufkommen des Visuellen in der Branche. Wir sind es ja in unserer Gesellschaft mittlerweile gewöhnt, alles visuell aufzubereiten.

“Leider ist es uns in Deutschland aber nie gelungen, das Essen wirklich zu etablieren, wie beispielsweise in Italien.”

Das hat die Food-Branche wieder weit nach vorne gebracht. Auch die Medienpräsenz durch diverse Kochshows, hat das Thema Essen wieder präsenter gemacht. Die Menschen denken mehr darüber nach, was sie essen und warum. Du bist, was du isst, da ist schon was dran. 

Bringt diese visuelle Ausrichtung nur Vorteile mit sich? 
Marie-Anne Raue: Ich glaube im Großen und Ganzen schon. Ich erwische mich selbst auch immer öfter, wenn ich auswärts essen gehe, wie ich erstmal ein Bild von meinem Essen mache, bevor ich es genieße. Danach hat man zwar immer ein schönes Andenken, jedoch ist das Essen auch häufig kalt (lacht). Und natürlich muss man bedenken, dass ein Essen noch so toll aussehen kann, wenn es nicht schmeckt, hat es seinen Zweck nicht erfüllt.

Das Visuelle ist also nicht alles. Und die richtige Temperatur des Gerichts ist für die Branchenkenner enorm wichtig. Da kommen wieder die Kochshows ins Spiel: Die Branche rückt dadurch mehr in das Interesse der Menschen – auch von jungen Leuten, die vielleicht als Koch eine Karriere starten wollen. Man muss nur aufpassen, dass die Erwartungen durch die Medien nicht völlig falsch gesetzt wurden. Kochen ist nämlich mehr, als ein schönes Gericht zu präsentieren. Davor heißt es erstmal stundenlang vorbereiten (lacht). 

“Kochen ist nämlich mehr, als ein schönes Gericht zu präsentieren. Davor heißt es erstmal stundenlang vorbereiten.”

Wie hat sich die Gastro-Branche in den letzten Jahren verändert? 
Marie-Anne Raue: Zunächst ist es viel wichtiger geworden, woher die Produkte bezogen werden. Regionale und saisonale Ware gewinnt immer mehr an Bedeutung und das freut uns natürlich sehr. In den Restaurants selbst hat sich die Stimmung maßgeblich verändert. Während vor allem in schickeren Restaurants früher eine eher ernstere Stimmung war und die Service-Mitarbeiter eher als Bedienstete angesehen wurden, ist es heute ein lockererer Umgang und man begegnet sich auf Augenhöhe.

Häufig kommt man auch ins Gespräch, sodass ein Service-Mitarbeiter von heute viel mehr können muss, als Essen zu servieren, man hält häufig ein kurzes Gespräch, ist interessiert an Politik und Kultur und kann sich gut in den Gast hineinversetzen. Außerdem ist das Essen allgemein wieder viel mehr in unser Bewusstsein gerutscht, wir berufen uns auf alte Rezepte und leben ein bisschen mehr unsere Essenskultur. 

“Während vor allem in schickeren Restaurants früher eine eher ernstere Stimmung war und die Service-Mitarbeiter eher als Bedienstete angesehen wurden, ist es heute ein lockererer Umgang und man begegnet sich auf Augenhöhe.”

Was macht ein gutes Restaurant von heute aus?
Marie-Anne Raue: Als ich meine Ausbildung gemacht habe, waren die Restaurants noch sehr auf das Essen beschränkt. Der Restaurantbesuch hatte etwas Sakrales. Man hatte teilweise ein bisschen das Gefühl, man dürfe beim Essen kaum atmen, geschweige denn Spaß haben. Das hat sich heute verändert. Wir müssen ein Erlebnis um das tolle Essen schaffen.

Es kommt eben auch darauf wie wir sitzen, wer um uns herum ist, welche Musik läuft – das ist alles ein Konzept, das muss stimmig sein. Eigentlich ist so ein Restaurantbesuch, wo man teilweise mehrere hundert Euro ausgibt, wie eine Aufführung. Da muss vieles stimmen. 

Wir haben es uns heute angewöhnt unser Essen zu bewerten, entweder mit schlichten Google-Bewertungen oder eben durch hochwertige Michelin-Sterne. Ein gutes System? 
Marie-Anne Raue: Man muss natürlich unterscheiden, welche Bewertung da genau vorgenommen werden. Handelt es sich um Menschen aus der Branche, die aufgrund ihres Basiswissen eine Bewertung vornehmen, oder geht um anonyme Google-Bewertungen, wo jeder auch mal seine schlechte Laune auslässt.

Man kann heute schließlich auch eine Bewertung schreiben, ohne überhaupt im Restaurant gewesen zu sein, einfach um den Besitzern zu schaden. Aber das ist ein Problem des gesamten Internets, dass Menschen anderen etwas Böses wollen, häufig auch nur aus Langeweile. Natürlich lese ich mir solche Bewertungen auch immer mal wieder durch, versuche dann aber Rückschluss auf den Verfasser zu ziehen, um die Bewertung einschätzen zu können.

“Man kann auch eine Bewertung schreiben, ohne überhaupt im Restaurant gewesen zu sein, einfach um den Besitzern zu schaden.”

Ich lese mir die Bewertungen meines Restaurants auch immer durch, schließlich ist häufig auch ein Fünkchen Wahrheit enthalten, aus dem man lernen kann. Aber am Ende des Tages darf man nicht aus den Augen verlieren, dass es sich auch immer um eine subjektive Meinung handelt. Ein Essen kann sehr gut sein und trotzdem nicht jedem schmecken und gefallen. Das ist subjektiv, wie bei der Mode oder Architektur. 

Ihr Restaurant ist neben der Nominierung der 50 besten Restaurants der Welt auch das einzige Deutsche, das in der Netflix-Serie Chef’s Table in einer eigenen Folge gezeigt wird. Wie wichtig ist solche Publicity? 
Marie-Anne Raue: Leider super wichtig. Ich glaube sogar, dass man ein gutes Restaurantkonzept inzwischen nur dann erstellen kann, wenn man die Ideen medial aufzieht, um erstmal Aufmerksamkeit zu bekommen. Und dann muss man in einem zweiten Schritt, wenn man es geschafft hat, dass die Leute über einen sprechen, halten, was man versprochen hat. Bei dem großen Angebot was wir an Restaurants haben, muss man etwas Besonderes bieten und sich irgendwie hervortun.

Außerdem ist es heute glaube ich wichtig, eine Art Nischenprodukt zu schaffen. Gutes Essen gibt es überall, man muss ein Geschmackserlebnis schaffen, das es nur einmal gibt. Die Folge auf Netflix war natürlich ein Glücksfall, das ist ja keine Marketingmaßnahme, die man selbst in Angriff nehmen kann, sondern man wird ausgesucht. Wir haben dadurch auch viele Gäste, die extra nach Deutschland reisen, um bei uns zu essen. Das ist ein tolles Gefühl! 

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