
Julia Friedrichs: Sich selbst aus dem Nichts Wohlstand aufzubauen, ist heute fast unmöglich.
von Laura Bähr
Frau Friedrichs, in Ihrem Buch “Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können” sprechen Sie mit Wissenschaftler:innen, Expert:innen und Politiker:innen. Und erzählen von den Geschichten derer, die die Arbeit nicht getragen hat. Was hat sie an dem Thema fasziniert?
Julia Friedrichs: Für mein letztes Buch “Wir Erben” habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die geerbt haben. Ein Thema, das in der Generation nach den Babyboomern sehr relevant ist. Die große Frage dabei: Wer erbt und wer nicht?
Während der Recherche zu meinem Buch habe ich mich intensiv mit der Frage beschäftigt, was es mit einem macht, wenn man viel Geld vererbt bekommt. In Gesprächen mit Ökonomen wurde mir dann immer wieder gesagt, dass es eine große Trennlinie in Deutschland gibt: Wer besitzt Kapital und wer nicht.
Für Menschen unter 45 Jahren ist es in den letzten Jahren sehr viel schwieriger geworden, sich alleine durch Arbeit Vermögen aufzubauen. Sich selbst aus dem Nichts Wohlstand zu erarbeiten, ist heute fast unmöglich. Demnach ist dieses Buch der zweite Teil meiner Geschichte. “Wir Nichterben” (lacht). Und ich möchte der Frage nachgehen, was eigentlich aus dem großen Versprechen der Bundesregierung geworden ist, dass man es durch eigene Arbeit, durch Talent und Durchsetzungsvermögen zu etwas bringen kann.
“Für Menschen unter 45 Jahren ist es in den letzten Jahren sehr viel schwieriger geworden, sich alleine durch Arbeit Vermögen aufzubauen.”
Wie kann es sein, dass viele Menschen trotz Vollzeitarbeit nicht von ihrem Geld leben können?
Julia Friedrichs: Es gibt nicht den einen entscheidenden Grund, der alles erklärt. Häufig spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Ein zentraler Punkt ist, dass vor allem in den unteren Lohngruppen die Löhne einfach viel zu niedrig sind. Und sie sind seit der Mitte der 90er-Jahre auch nicht mehr signifikant gestiegen. Diese Menschen haben ihren Teil am steigenden Bruttoinlandsprodukt folglich nicht abbekommen.
Das sieht man zum Beispiel bei Sait, dem U-Bahnhofreiniger, den ich in meinem Buch begleitet habe. Der verdient heute weniger als sein Vater, ebenfalls ungelernter U-Bahnhofreiniger, eine Generation zuvor. Und das ist leider keine Ausnahme. Die Löhne stagnieren, während die Wohn-, Lebenskosten und Sozialabgaben stetig steigen. Die Menschen, die ich für mein Buch begleitet habe, sind ja nicht klassisch „arm“ und beziehen Arbeitslosengeld. Sie gehen jeden Tag zur Arbeit, haben ein Dach über dem Kopf und zu essen.
Und trotzdem haben sie keine Chance, sich etwas aufzubauen oder etwas zurückzulegen. Sie bangen jeden Monat aufs Neue, ob das Geld reicht und müssen mit dem ständigen Angstgefühl leben, dass morgen alles zusammenbrechen kann. Schließlich gibt es keinen Puffer und keine Reserven, die sie auffangen, wenn mal etwas schiefläuft.
“Die Löhne stagnieren, während die Wohn-, Lebenskosten und Sozialabgaben stetig steigen.”
Gibt es bereits erste Konzepte, wie man dieser Ungleichheit entgegenwirken kann?
Julia Friedrichs: Aktuell habe ich das Gefühl, dass sich endlich etwas bewegt. Es war lange Zeit so, dass man bei diesem Thema immer wieder diskutieren musste, weil es hieß, Deutschland sei doch ein reiches Land. Mittlerweile sind die Daten und Statistiken aber so frappierend und die Pandemie hat natürlich noch ihr Übriges getan, dass man nicht mehr wegschauen kann.
Es gibt diese Ungleichheit und das vor allem in den Berufen, auf die wir dringend angewiesen sind. Manche Parteien wie die SPD oder Die Linke fordern einen höheren Mindestlohn. Das wäre meiner Meinung nach schon ein erster wichtiger Schritt.
Ein Grundgehalt einzuführen, von dem jeder Mensch ein gutes Leben führen kann und nicht zu jedem Monatsende bangen muss. Außerdem sollte das Verhältnisse zwischen denen, die Vermögen haben und denen, die sich aktuell „nur“ auf ihr Arbeitsgehalt verlassen können, ausgeglichen werden. In Deutschland finanzieren wir den Staat aktuell vor allem durch unsere Arbeit und durch den Konsum. Das trifft jedoch die am härtesten, die nur ihre Arbeit haben. Vermögen versteuern wir hingegen kaum.
“In Deutschland finanzieren wir den Staat aktuell vor allem durch unsere Arbeit und durch den Konsum. Das trifft jedoch die am härtesten, die nur ihre Arbeit haben.”
Weder die großen Vermögen noch die Kapitalerträge oder Erbschaften werden in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ausreichend versteuert. Der Staat behauptet folglich, wenn ihr euch alle anstrengt und jeden Tag fleißig arbeiten geht, könnte ihr euch ein gutes Leben leisten. Legt diesen Menschen dann aber mehr Steine in den Weg als denen, die für ihr Geld bisher noch wenig tun mussten. Die Anreize des Staates könnten folglich gegensätzlicher nicht sein. Dazu kommt, dass es einen Staat sehr träge und unbeweglich macht, wenn immer dieselben das Vermögen halten.
Gibt es weitere Konzepte, die diese Ungleichheit auflösen könnten?
Julia Friedrichs: Ja, es gibt zum Beispiel die Idee, dass jeder Bürger eine Art Startkapital vom Staat bekommt, um beispielsweise in Immobilien und Co. investieren zu können. So bekommt jeder die Chance mitzuspielen. Denn ohne Kapital würde das gar nicht gehen, man kann nichts gründen, ins Ausland gehen oder eine Immobilie finanzieren. Diese Dinge bleiben für die meisten Bürger ein Leben lang unerreichbar.
Eine sehr gute Idee ist auch das Modell des Mietkaufs, bei dem man sich mit jeder Miete Stück für Stück die eigene Immobilie zu eigen macht. Die Norweger haben zum Beispiel einen Staatsfond, in den alle Öleinnahmen fließen und jeder Norweger hält Anteile, die von einem Gremium gemanagt werden. So etwas könnte man in Deutschland auch versuchen. Wir besteuern zum Beispiel die großen Vermögen, die in Deutschland ja gewaltig sind und füttern damit einen Staatsfond, in dem dann für alle gespart wird.
“Es macht einen Staat sehr träge und unbeweglich, wenn immer dieselben das Vermögen halten.”
Welche Rolle gestehen Sie der Politik bei diesem Thema zu?
Julia Friedrichs: Die Problematik, dass die „unteren“ Bürgerschichten in Deutschland, die kaum Vermögen halten und sich folglich auch nichts aufbauen können, spielt politisch aktuell kaum eine Rolle. Das Thema war mal ein zentrales Politikfeld und ich fände es wichtig, dass wir da wieder anknüpfen. Das Wissen um einen Finanzpuffer macht einen schließlich erst frei in seinen Entscheidungen und das sollte jedem Bürger in Deutschland möglich sein.
Laut der Finanzexpertin Natascha Wegelin haben vor allem Frauen Probleme ihre Finanzen zu regeln und sich um Anlagen, Fonds etc. zu kümmern. Gibt es bei der „Working Class“ geschlechterspezifische Unterschiede?
Julia Friedrichs: Im Gegensatz zu der alten Arbeiterklasse, bei der man den Kohlekumpel oder den Industriearbeiter am Band vor Augen hat, ist die Working Class sehr viel weiblicher, sehr viel diverser, voll mit Menschen, mit Migrationshintergrund und vor allem in den Dienstleistungssektoren unterwegs. Und wenn man sich mit dem Niedriglohnbereich beschäftigt, ist es ein sehr weiblicher Arbeitsmarkt, ja.
All die Menschen, die kassieren, die pflegen, die erziehen, das sind ganz oft klassisch weibliche Berufe und das fußt darauf, dass das weibliche Einkommen aus der Tradition heraus nach wie vor als Zusatzverdienst und „nice to have“ angesehen wird. Es gibt eine Statistik, dass nur 10 % der Mütter über 2.000 Euro verdienen. Dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen.
“Es gibt eine Statistik, dass nur 10 % der Mütter über 2.000 Euro verdienen.”
Sie schreiben, dass es besonders für die unter 45-jährigen heute sehr schwierig geworden ist, Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten. Woran liegt das? Wo doch die Wirtschaft kontinuierlich wächst?
Julia Friedrichs: Das Wachstum ist ungleich verteilt. Vom Wachstum haben in Deutschland in den letzten Jahren in erster Linie die Vermögenden profitiert. Deutschland hat sich weiter aufgespreizt. In den 80ern war das Gehalt eines Vorstandes noch sehr viel näher an dem eines Arbeiters aus demselben Betrieb wie heute. Früher hat eine Führungsposition im Durchschnitt 14-mal so viel verdient wie ein Arbeitender, heute ist es 50-mal so viel.
Der Verleger Julien Backhaus sagte im Gespräch mit uns: „Das Schulsystem ist darauf ausgelegt, wirtschaftliche Abhängige zu züchten, was dazu führt, dass junge Menschen ihren späteren Wert auf dem Arbeitsmarkt nicht kennen“. Können Sie das bestätigen?
Julia Friedrichs: Ich glaube auch, dass zu wenig Wirtschaft in den Schulen gelehrt wird. Wir sollten alle von klein auf lernen, wie viel Geld man im Leben wofür braucht und warum die Altersvorsorge so wichtig ist. Während viele Kinder mit 5 Jahren Müllmann oder Krankenschwester werden wollen, wendet sich dieses Blatt im Jugendalter, weil die Kinder heute wissen, dass das nicht die Berufe sind, mit denen sie später Geld und den Respekt der Gesellschaft verdienen.
Das heißt, wenn wir wollen, dass diese Berufe weiter ausgeübt werden, müssen wir sie besser bezahlen. Denn Geld bestimmt nach wie vor das Wertesystem in unserer Gesellschaft und ist das Zeichen von Respekt und Wertschätzung. Das zeigt auch die Gegenwart. Natürlich ist das Klatschen für das Pflegepersonal in diesen schwierigen Zeiten nett gemeint, aber es bringt den Menschen am Ende des Tages natürlich gar nichts.
“Geld bestimmt nach wie vor das Wertesystem in unserer Gesellschaft und ist das Zeichen von Respekt und Wertschätzung.”
Wir haben vor kurzem mit der Autorin Nina Kunz gesprochen, die in ihrem neusten Werk „Ich denke, ich denke zu viel“ den Begriff „Workism“ beschreibt, der das Phänomen erläutert, dass Arbeit keine Notwendigkeit mehr ist, sondern der Kern der eigenen Identität. Wie stehen Sie zu diesem Begriff?
Julia Friedrichs: Ich habe in meinem Buch einen jungen Mann begleitet, der in der Markt- und Konsumforschung arbeitet. Die Firma, für die er tätig war, hat das Bild einer großen Familie, die zusammenarbeitet und Spaß hat, verkauft. Dieses Bild hat Christian komplett verinnerlicht, sodass er sich mit Dingen wie Gehalt oder Vertragsbedingungen gar nicht intensiv beschäftigt hat, schließlich ging es um die “Familie”.
Und dann gab es einen Wechsel in der Führungsebene und Christian wurde degradiert. Das hat bei ihm eine richtige Lebenskrise ausgelöst. Viele Firmen vermitteln den Eindruck, „sei doch froh, dass du mit uns arbeiten darfst“ und über Dinge wie Geld wird gar nicht so genau gesprochen.
“Viele Firmen vermitteln den Eindruck, „sei doch froh, dass du mit uns arbeiten darfst“ und über Dinge wie Geld wird gar nicht so genau gesprochen.”
Das ist fatal, weil es zum einen die unterstützt, die mit ihrer Arbeit gar nicht unbedingt Geld verdienen müssen, weil sie es sowieso haben und gleichzeitig Ausbeutungsprozesse befeuert und verhindert, dass man lernt, Arbeitskämpfe zu führen. Der Job wird nicht mehr als professionelles Umfeld anerkannt. Christian ist während dieser Zeit vor die U-Bahn gefallen oder ist gesprungen, das weiß er selber gar nicht mehr so genau.
Er hat zum Glück schwer verletzt überlebt und war die ganze Reha über nur von dem Gedanken angetrieben, so schnell wie möglich zurück in diese Firma zu seiner Familie zu können. Das fand ich erschreckend. Diese Arbeit war der wichtigste Inhalt seines Lebens. Und natürlich haben die Arbeitgeber bei seiner Rückkehr nicht so reagiert, wie er sich das gewünscht hatte. Es war für ihn ein mühsamer Prozess, zu verstehen, dass das nicht wirklich seine Familie ist, die sich um ihn sorgt, sondern ein Arbeitgeber, der seine Arbeitskraft nutzt.
“Der Job wird nicht mehr als professionelles Umfeld anerkannt.”
Viele Menschen haben aufgrund ihres schlechten Einkommens auch Angst vor dem Alter. Ist die Rente Ihrer Ansicht nach überhaupt noch zeitgemäß oder gäbe es eine andere Möglichkeit vom Staat im Alter unterstützt zu werden?
Julia Friedrichs: Ich finde, dass es aktuell kein besseres Modell als die umlagefinanzierte Rente gibt. Alle anderen Modelle bringen große Risiken mit sich, die nicht zu uns Deutschen als Sicherheitsfanatiker passen. Die klassische Rente gehört zu unserer kulturellen Identität. Das Modell kommt allerdings ins Schwanken, wenn die ältere Generation mehr Geld entnimmt, als die junge bereitstellen kann.
Ähnlich wie bei der Klimakrise können hier nicht alle Probleme nur zu Lasten der jüngeren Generation auslegt werden. Die Lasten, die entstehen, weil wir zum Glück alle länger leben, müssen fairer zwischen den Generationen verteilt werden. Auch Beamte sollten miteinbezogen werden, um die Gruppe größer zu machen und das bestehende Vermögen sollte ebenfalls ein Punkt sein, der miteinberechnet wird.
“Die Lasten, die entstehen, weil wir zum Glück alle länger leben, müssen fairer zwischen den Generationen verteilt werden.”
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es heute weniger darum geht, was für einen Job man macht oder wie fleißig man ist. Es geht immer auch darum, was die eigenen Eltern gemacht haben und wie viel Geld von ihnen an die junge Generation transferiert wird. Kann Arbeit so heute überhaupt noch Befriedigung bringen? Wie verändert das unsere Gesellschaft?
Julia Friedrichs: Wir behaupten, wir wären eine Leistungsgesellschaft, dabei entwickeln wir uns, um es etwas polemisch zu formulieren zu einer feudalistische Erbengesellschaft.
Sobald die Menschen merken, dass egal wie hart sie arbeiten, sie sich niemals diese Wohnung leisten werden können, sind sie raus und haben häufig gar keinen Antrieb mehr, sich anzustrengen. Man gibt auf. Das führt zu Frust und Wut und mangelndes Vertrauen in das System und den Staat.