Raphael Gielgen
©Vitra, Foto: Tom Ziora

Raphael Gielgen: Wenn die Architektur der Arbeit eine Software ist, dann gibt es für die aus der alten Welt bald kein Update mehr.

von Laura Bähr

Raphael, was sind deine wichtigsten drei Arbeitstools? 
Raphael Gielgen: Mein Laptop, Google und mein Smartphone.

Als “Future of Work Trendscout” bist du auf der Suche nach sozialen, technologischen und gestalterischen Trends rund um die Arbeitswelt. Kommen die Corona-Krise und die Aufmerksamkeit für diese Themen deiner Suche nach neuen Möglichkeiten aktuell zu Gute oder setzt das die Branche eher unter Druck?
Raphael Gielgen: Ich würde mich in meiner Arbeit als eine Art “Scanner” bezeichnen. Ich schaue genauer hin und entdecke so vielleicht Dinge, die man auf den ersten Blick nicht auf dem Schirm hat. In erster Linie suche ich nach veränderten Verhaltensmustern, die sich auf unsere Arbeitsweisen und unsere Ansprüche und Wünsche auswirken.

Die aktuelle Zeit spielt uns dabei gerade sehr in die Karten, alles wird neu gemischt. Die Dinge, die seit Jahren existieren, werden momentan grundlegend hinterfragt. Während man vor ein paar Jahren noch auf die Leute einreden musste und immer wieder Ausreden zu hören bekam, man sei noch nicht so weit, stellt sich diese Frage erst gar nicht mehr. Wir müssen quasi soweit sein. So gut wie jede Firma macht sich nun auf den Weg in eine neue Zukunft, weil sie weiß, dass es keinen Weg zurückgibt. Eine unglaublich spannende Zeit. 

“So gut wie jede Firma macht sich nun auf den Weg in eine neue Zukunft, weil sie weiß, dass es keinen Weg zurückgibt.”

Wie darf man sich deine Arbeit als “Scanner” denn vorstellen?
Raphael Gielgen: Nehmen wir mal das Beispiel “Remote Work”. Da fragt man sich erstmal, was bedeutet das eigentlich für einen selbst und welche Berührungspunkte gab es schon. Ich kannte zum Beispiel fünf oder sechs Tools vor der Pandemie. Wenn man sich dann näher damit beschäftigt und recherchiert, merkt man schnell, dass es über 700 Tools für die Telearbeit gibt. Man geht also noch tiefer und schaut sich an, was diese Tools alles können, was sie vereint und was sie unterscheidet.

Dazu habe ich einen Report erstellt und gemerkt, was dieses digitale Ökosystem eigentlich alles ausmacht. Es ist wichtig die Zusammenhänge zu verstehen, um ein Thema ganz begreifen zu können. Man muss erkennen, wo die Nachbarschaften sind, wer der große Bruder ist, also zum Beispiel die physische Architektur der Arbeit. Wenn man dann weiter nach Referenzen sucht kommt man dabei relativ schnell aufs Gaming. Leute, die gamen haben Verhaltensmuster, die sich auf einer virtuellen Kollaboration berufen. Kann man diese auch auf die virtuelle Zusammenarbeit beziehen? Und so spinnt man eine Geschichte, hält sich wochenlang in so einem Themenfeld auf und entdeckt immer wieder was Neues. 

Prof. Jan Teunen sagt über das Büro der Zukunft, dass der Arbeitsplatz schon lange in einer Krise steckt und den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr nachkommt. Wie siehst du das?
Raphael Gielgen: Jan betrachtet das aus der menschlichen Perspektive, das haben wir total verlernt (lacht). Wir haben ja Arbeit und Kultur komplett getrennt. Manager sind auch nicht gut in Kulturtechniken, sie sind schließlich darauf trainiert in Unternehmensstrategien zu denken. Das Gute an der Vergangenheit ist, was wir schon viel über den Menschen gelernt haben. Den Bedürfnissen des Menschen kommt der Arbeitsplatz von heute und gestern aber schon lange nicht mehr nach, da gebe ich ihm absolut recht. 

“Das Gute an der Vergangenheit ist, was wir schon viel über den Menschen gelernt haben.”

Wie sieht für dich der perfekte Arbeitsplatz der Zukunft aus? 
Raphael Gielgen: Zunächst sollten wir uns mal von dem Begriff Arbeitsplatz trennen. Der ist einfach viel zu klein gedacht. Wir sollten uns die größere Frage stellen: Was wäre eine wünschenswerte Zukunft der Arbeit? Dabei gibt es drei große Themen: Wie arbeiten wir zusammen, was bedeutet Führung und was bedeutet die physische Architektur der Arbeit. Wenn wir über die physische Architektur der Arbeit nachdenken, dann vor allem im Hinblick auf das Kollektiv. Das Kollektiv hat zwei Modus Operandi – zum einen die Rituale, wie das gemeinsame Frühstück, Mittagessen, Feiern und das gemeinsame Lernen und zum anderen die Erneuerung der Organisation.

Kollaborationen und Co-Kreationsprojekte. Routinearbeit wird abnehmen, deshalb steht das Kollektiv immer mehr im Mittelpunkt. Und deshalb müssen wir die Arbeitsorte und Arbeitsplätze jetzt auch aus dem Kollektiv heraus denken und nicht mehr für den Einzelnen. Außerdem müssen wir Arbeit neu programmieren. Wir müssen die Arbeit sichtbar machen, damit die Mitarbeiter teilhaben können und Transformationsmöglichkeiten entstehen. Durch den Austausch und das voneinander lernen erweitern sie ihre Fähigkeiten, wodurch auch die Firmen einen völlig neuen Ruf erlangen. Wir müssen alles neu verhandeln und mit einem weißen Blatt beginnen. Wenn die Architektur der Arbeit eine Software ist, dann gibt es für die aus der alten Welt bald kein Update mehr.

“Routinearbeit wird abnehmen, deshalb steht das Kollektiv immer mehr im Mittelpunkt.”

Den einen Arbeitsplatz wird es, so viele Experten, nicht mehr geben, es wird aus dem Büro gearbeitet, aus dem Homeoffice oder aus Co-Working-Spaces. Kann zu viel Flexibilität uns im Büro eventuell auch überfordern? 
Raphael Gielgen: Da ist jeder individuell gefordert. Jede Art der Ablenkung ist nicht dienlich, aber man muss schon selber nachdenken, wie oft man ins Handy schaut. Der Schlüssel wird sein zu überlegen, welche Art der Arbeit man sich für welchen Ort aussucht. Und diese Entscheidung muss jeder selbst treffen, die kann und sollte nicht der Arbeitgeber treffen. 

In dem Rahmen bricht auch immer wieder die Debatte zum Thema Work-Life-Balance aus. Ist solch eine Balance deiner Meinung nach überhaupt möglich oder brauchen wir eine Integration?
Raphael Gielgen: Wenn ein Pizzalieferdienst es in den DAX schafft, dann sagt das etwas über den Geisteszustand einer Gesellschaft aus. Es ist niemand dazu gezwungen bei einer Firma zu arbeiten, die einen überbelastet. Wir Menschen haben per se ein wenig die Mitte zum Leben verloren. Und das macht es uns so schwer, uns im Leben einzuordnen. 

Welchen Bedürfnissen muss der Arbeitsplatz, wo immer er auch stattfindet, nachkommen?
Raphael Gielgen: Das ist sehr individuell. Raum kann Schutzraum sein oder Arbeit sichtbar machen. Am einfachsten kann man sich das selbst vor Augen führen, wenn man an sein Lieblingsrestaurant denkt und dann hinterfragt, warum man dort eigentlich so gerne Zeit verbringt. Ein Arbeitsraum muss introvertiert und extrovertiert sein, laut und leise, muss auf die Gruppe und das Kollektiv einzahlen. Wir verkopfen das stellenweise viel zu sehr.

Meiner Meinung nach, sollten wir einfach dort arbeiten, wo wir uns instinktiv wohlfühlen. Wir müssen für uns Zukunft beschreiten und begehen. Die Zukunft ist ein Möglichkeitsraum, aber die Türen müssen wir selbst aufmachen. Wir müssen erstmal herausfinden, was wir wollen, bevor wir uns Gedanken über den Arbeitsplatz der Zukunft machen können. Und das müssen wir auch in Worte fassen. 

“Wir sollten einfach dort arbeiten, wo wir uns instinktiv wohlfühlen.”

Die meisten Arbeitsplätze sind aktuell unter wirtschaftlichen und rationalen Gründen eingerichtet. Brauchen wir wieder mehr Schönheit, die uns umgibt? 
Raphael Gielgen: Schönheit hilft immer. Aber die Auffassung von Schönheit ist ja sehr individuell. In der Vergangenheit wurde Arbeit als Rationalität, Effizienz und Produktivität gedacht, dass alleine reicht aber nicht mehr. Das müssen wir erstmal verstehen und uns überlegen, was wir stattdessen noch wollen und brauchen. Die Arbeit hat sich geändert, heute brauchen wir viel Kreativität und Intuition und dafür braucht es andere Räume. 

Wie gelingt es einen Arbeitsplatz zu schaffen, der die Menschen motiviert und eine produktive Arbeit fördert?
Raphael Gielgen: Das ist ein Arbeitsplatz, der all das hat, was auf die Bedürfnisse der Menschen einzahlt. Wieso kann ein Arbeitsplatz nicht sein wie ein Spa? Stellen wir uns mal vor, man kommt von der Arbeit nach Hause und der Partner fragt, Mensch, wo kommst du denn her, du siehst ja toll aus, so glücklich und erholt. Und man sagt, von der Arbeit. So denken wir aber gar nicht, das kommt für uns überhaupt nicht in Frage.

Wir nutzen so viele Potenziale wie Licht, Klima, Skalierung gar nicht aus. Ein gutes Büro kann man eigentlich mit einem guten Kiez vergleichen. Man lebt in einer Gemeinschaft, hat Orte, an denen man gemeinsam Zeit verbringen kann, und Orte, an die man sich zurückziehen kann. Eine räumliche Vielfalt, in der man sich ganz bewusst auf den Weg macht und sich auf begleitende Inspirationen freut. 

“Ein gutes Büro kann man eigentlich mit einem guten Kiez vergleichen.”

Wieso ist das die letzten Jahre zu kurz gekommen?
Raphael Gielgen: Weil Firmen lediglich nach Geschäftsergebnissen bewertet werden und nicht nach unternehmerischer Fürsorge. Das System der alten Wirtschaft ist gefühlt zu Ende. Wir beherrschen alle Techniken. Diese Software wird nicht mehr besser, also wird es an der Zeit eine neue Software zu programmieren. Fortschritt und Wohlbefinden müssen nicht im Widerspruch stehen.

In einem Interview meintest du neulich, dass du glaubst, dass der Einzelschreibtisch bald Geschichte sein wird, weil dort keine neuen Werte mehr entstehen und nur das zukünftig über die Relevanz eines Unternehmens entscheidet. Wie sieht dieses Kollektiv genau aus? 
Raphael Gielgen: An einem Schreibtisch macht man in der Regel Routinearbeit. In Sachen Routinearbeit werden wir aber mehr und mehr abgelöst von der Technik, das ist auch gut so. Denn auf Routinearbeit hat keiner Lust. Was immer wichtiger für uns wird, ist die Kreativität, und die entsteht am besten im Kollektiv.

Das Kollektiv setzt sich nicht um einen Schreibtisch, dafür ist der Ort gänzlich ungeeignet und viel zu klein. Wir brauchen also neue Räume, in denen das Kollektiv gut arbeiten kann. Das Neue kommt nur in die Welt, wenn man die Betrachtungsebene des eigenen Schreibtisches verlässt. Wir bei Vitra arbeiten zum Beispiel im „Citizen Office“, das es eigentlich schon seit zwanzig Jahren gibt. All diese neuen Ideen sind im Grunde alt, sie sind nur noch nicht bei allen angekommen. 

“Das Neue kommt nur in die Welt, wenn man die Betrachtungsebene des eigenen Schreibtisches verlässt.”

Für deine Arbeit reist du meist 200 Tage im Jahr umher und erforschst den Arbeitsplatz in anderen Ländern und Kulturen. Ist das perfekte Büro eine Weltsprache oder je nach Kultur verschieden?
Raphael Gielgen: Das perfekte Büro ist eine Weltsprache. Der Unterschied besteht in einigen kulturellen Aspekten, das sind aber nur die Feinheiten. 

Welchen Appell hast du an die Unternehmen, um in Zukunft den idealen Arbeitsplatz aber auch die idealen Firmenphilosophie zu schaffen?
Raphael Gielgen: Die Unternehmen sollten sich ganz viele “was wäre, wenn Fragen” stellen, die sie in eine wünschenswerte Zukunft der Arbeit führen. Also nicht losrasen und morgen alles ändern, sondern mal in Ruhe darüber nachdenken. Außerdem sollten sie aufschreiben, was sie glauben, was sich in den nächsten zehn, zwanzig Jahren alles verändern wird in der Welt. Dann werden sie ziemlich schnell feststellen: der Status Quo ist keine Option. Wenn meine Firma ein Charakter wäre, was wären die Charaktereigenschaften, die sie ausmachen? So findet man ganz schnell heraus, wer man ist und wofür man steht und dann hat man eigentlich eine Blaupause, die eine Anleitung für die Gestaltung der jeweiligen Architektur bietet.

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